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Leitlinien im Förderschwerpunkt LERNEN

Arbeitsstand 09.01.2019

von Dr. Ralf Brandstetter, Manfred Burghardt, Ansgar Rieß, Manuel Binder, Lars Annecke, Thomas Walter & Philipp Staubitz

I) Einleitende Gedanken

(Sonder-) Pädagogisches Handeln und Wirken ist in folgende vier Dimensionen eingebunden:

  • Haltung und professionelle Beziehungsgestaltung
  • Fachwissenschaft und (sonder-) pädagogische Fachlichkeit
  • Institutionelle und strukturelle Gegebenheiten
  • Gesetzliche und untergesetzliche Vorgaben

Die Dimension „Haltung und professionelle Beziehungsgestaltung“ ist dabei ein zentrales Element sonderpädagogischen Handelns und Wirkens und durchzieht alle weiteren Dimensionen. Denn: (Sonder-) Pädagogik ist und bleibt ein interaktionistisches Komplex-Geschehen zwischen Menschen. Und dieses Komplex-Geschehen ist maßgeblich abhängig von einer gelingenden Beziehungsgestaltung, die auf Seiten der Professionellen von einer humanistischen Haltung geprägt sein muss. Nur so ist das übergeordnete Ziel (sonder-) pädagogischen Handelns zu erreichen, nämlich Kindern und Jugendlichen dauerhaft ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. Es gilt also, auf der Grundlage einer humanistischen Haltung und einer professionellen Beziehungsgestaltung:

  • die fachwissenschaftlich fundierte (sonder-)pädagogische Fachlichkeit einzusetzen.
  • mit institutionellen und strukturellen Gegebenheiten umzugehen bzw. diese zu schaffen
  • sowie gesetzliche und untergesetzliche Vorgaben umzusetzen.

Dieser Leitlinientext soll in erster Linie das fachwissenschaftlich fundierte Verständnis sonderpädagogischer Fachlichkeit des Förderschwerpunkts „Lernen“ am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (SSDL), Abteilung Sonderpädagogik in Freiburg abbilden und in ein sonderpädagogisches Handlungsmodell überführen. Damit kann der Text eine Hilfestellung bieten, wie auf Grundlage einer sonderpädagogischen Diagnostik passgenaue Bildungsangebote entwickelt werden können, die die Aktivität und Teilhabe eines jungen Menschen unterstützen und gewährleisten.

II) Sonderpädagogische Fachlichkeit des Förderschwerpunkts "Lernen"

Ausgangspunkt der Ausführungen sind Fragestellungen, die sich u.a. mit dem Inkrafttreten von § 15 Schulgesetz in Baden-Württemberg (2015), der Verwaltungsvorschrift „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen“ (2008) sowie der Verordnung über sonderpädagogische Bildungsangebote (SBA-VO, 2016) ergeben.


Abb.1: Landesinstitut für Schulentwicklung (Hg.): Rahmenkonzeption sonderpädagogischer Dienst. Stuttgart, 2017

Um für die Praktiker (Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird ab hier auf die Explikation aller Geschlechter verzichtet) im Spiegel der gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen Hilfestellungen anzubieten, werden folgende Fragen beleuchtet:

  • Was kennzeichnet das sonderpädagogische Handeln im Sonderpädagogischen Dienst, im Rahmen der Anspruchsfeststellung bzw. im Rahmen eines sonderpädagogischen Bildungsanspruches unabhängig vom Förderschwerpunkt? 


  • Welche Zielgruppe steht im Förderschwerpunkt „Lernen“ im Fokus? 

  • Welche diagnostischen Aspekte sind im Förderschwerpunkt „Lernen“ bedeutsam?
  • Welche fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Aspekte sind für die Beratung im Rahmen des Sonderpädagogischen Dienstes bzw. für die Ausgestaltung individueller Bildungsangebote im Rahmen der Individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung (ILEB) im Förderschwerpunkt „Lernen“ relevant? 

  • Welche Kriterien initiieren und beenden die Tätigkeit des Sonderpädagogischen Dienstes und welche Kriterien sprechen für oder gegen den Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Förderschwerpunkt „Lernen“? 


Die Leitlinien richten sich an alle, die in ihrer Praxis oder im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung zu diesen Fragen entsprechende Antworten finden müssen. 


1. Was kennzeichnet das sonderpädagogische Handeln im Sonderpädagogischen Dienst, im Rahmen der Anspruchsfeststellung bzw. im Rahmen eines sonderpädagogsichen Bildungsanspruchs - unabhängig vom Förderschwerpunkt?

Das sonderpädagogische Handeln im Sonderpädagogischen Dienst, im Rahmen der Anspruchsfeststellung und im Rahmen eines sonderpädagogischen Bildungsangebotes orientiert sich grundsätzlich an drei übergeordneten Elementen:

  • „Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung“ (ILEB) nach Brandstetter, R. & Burghardt, M. (2008) als grundlegendes Arbeits- und Steuerungsinstrument der Sonderpädagogik in Baden-Württemberg
  • „Bedingungsanalytische Diagnostik“ nach Trost, R. (2008) zur Spezifizierung des ILEB-Bausteins „Sonderpädagogische Diagnostik„

• „Bio-psycho-soziales Modell der ICF-CY“ nach Lienhard, P. & Joller-Graf, G. (2011) zur Strukturierung der diagnostischen Daten

Zunächst werden in aller Kürze die drei o.g. Elemente vorgestellt und dann in einem sonderpädagogischen Handlungsmodell in Abb. 4 in ihrem Zusammenspiel abgebildet.

1.1. Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung (ILEB)

Die Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung (Brandstetter/Burghardt 2008) meint die an den individuellen Bedürfnissen und Potenzialen von jungen Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen und Benachteiligungen ausgerichtete professionelle Steuerung des Zusammenspiels von sonderpädagogischer Diagnostik, kooperativer Bildungsplanung, individuellem Bildungsangebot, Leistungsfeststellung und der kontinuierlichen Dokumentation dieses Prozesses. Im Zentrum aller Überlegungen steht dabei der junge Mensch. Ausgehend von seinen Talenten, Interessen, Bedürfnissen und Potenzialen sollen in einem kooperativen Abstimmungsprozess von Lehrkräften, anderen Fachkräften, Eltern und - je nach Möglichkeit - dem jungen Menschen selbst individuelle Bildungsangebote innerhalb und außerhalb von Kindergarten, Schule und beruflichen Bildungsangeboten entwickelt werden, die ein Höchstmaß an Aktivität und gesellschaftlicher Teilhabe zum Ziel haben. ILEB ist kurz gesagt die Idee, Bildungsangebote „vom Kind zum Programm“ zu denken. Der Einstieg in den spiralförmigen ILEB-Prozess ist dabei in der Regel die sonderpädagogische Diagnostik. Sie verfolgt zum einen das Ziel, den Kompetenzstand des jungen Menschen umfassend zu erheben, zum anderen unternimmt sie den Versuch, mögliche Barrieren zu eruieren, die eine optimale Entwicklung verhindern könnten. Sowohl in inhaltlich-fachlicher als auch organisatorisch-struktureller Hinsicht kommt ILEB noch eine weitere Funktion zu. ILEB fungiert gleichermaßen auch als ein Instrument der Qualitätssicherung sonderpädagogischer Arbeit (vgl. Burghardt/ Brandstetter/Stecher/Klingler-Neumann 2013)

1.2. Bedingungsanalytische Diagnostik nach Trost

Trost benennt in seinem Aufsatz „Bedingungsanalytische Diagnostik“ folgende Schritte:

  1. Formulierung einer diagnostischen Fragestellung 

  2. Fragestellungsnahe Handlungsbeobachtung: Gemeint ist damit der erste Eindruck des Diagnostikers in Bezug auf die diagnostische Fragestellung.
  3. Fragestellungsanalyse: In diesem Schritt expliziert der Diagnostiker den theoretischen Hintergrund der geplanten Untersuchung systematisiert und strukturiert. 

  4. Erhebung des Ist-Standes: Gemeint ist hier das Zusammentragen von Informationen bezogen auf die formulierte diagnostische Fragestellung. 

  5. Formulierung von Hypothesen: In diesem Schritt sollen „zielführende Untersuchungshypothesen“ entwickelt werden. Es geht um den Versuch, die diagnostische Fragestellung zu verstehen und zu erklären. Empirisch verwendbare Daten sollen dabei in einen Zusammenhang mit den Informationen der Fragestellungsanalyse gebracht werden. 

  6. Auswahl diagnostischer Methoden: Nach der Auswahl bestimmter Hypothesen werden in Abhängigkeit von diesen die diagnostischen Methoden ausgewählt. Die Hypothesenformulierung und deren Untersuchung mit geeigneten diagnostischen Methoden greifen ständig ineinander. Sie wiederholen sich so lange, bis der Diagnostiker zu einem gut begründbaren Ergebnis gekommen ist. 

  7. Aussagen zum sonderpädagogischen Förderbedarf 


1.3. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY)

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung & Gesundheit bei Kindern & Jugendlichen (WHO 2011) basiert auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Behinderung. Die ICF-CY beschreibt die Situation einer Person auf unterschiedlichen Ebenen:

  • ihres Körpers (Körperfunktionen und -strukturen)
  • der Handlungen oder Durchführungen von Aufgaben (Aktivitäten)
  • des Einbezogenseins in eine Lebenssituation (Teilhabe)

Sämtliche Ebenen stehen unter dem Einfluss von Kontextfaktoren (personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren).
Die Leitplanke ICF-CY dient im Rahmen sonderpädagogischer Diagnostik in erster Linie der Ordnung diagnostischer Daten: Neben den Kompetenzbeschreibungen auf der Ebene von Aktivität und Teilhabe sollen bei der Hypothesenbildung zum einen Körperfunktionen und -strukturen, zum anderen die Kontextfaktoren (personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren) als „hypothesen-generierende Kategorien“ Berücksichtigung finden (Vorhandene Diagnosen nach ICD-10 oder DSM-5 werden zusätzlich miteinbezogen, wenn sich diese auf die Kompetenzentwicklung im Bereich Aktivität und Teilhabe auswirken und somit im Rahmen der Hypothesenbildung ggf. berücksichtigt werden sollten).

1.4. Diagnostische Prozesse gestalten in sonderpädagogischen Kontexten

Im nachfolgenden Handlungsmodell „Diagnostische Prozesse gestalten in sonderpädagogischen Kontexten“ bildet sich folgendes ab:

  • Die Schrittreihenfolge sonderpädagogischen Handelns (1.-7.) verstanden als spiralförmiger und dynamischer Prozess.
  • Die den Schritten 1.-7. zugeordneten Qualitätsmerkmale.


2. Welche Zielgruppe steht im Förderschwerpunkt "Lernen" im Fokus?

Sonderpädagogische Expertise im Förderschwerpunkt „Lernen“ nimmt junge Menschen in den Blick, die über einen längeren Zeitraum die definierten Bildungsziele im vorschulischen Bereich, in allgemeinen Schulen, in kooperativen Organisationsformen, in inklusiven Bildungsangeboten, in Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren mit allgemeinen Bildungsgang und dem Bildungsgang „Lernen“ und in der beruflichen Bildung nicht oder nur in Ansätzen erreichen (Junge Menschen mit „geistiger Behinderung“ im Sinne der KMK-Empfehlungen gilt es dabei zu unterscheiden).

Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten, einer Lernbeeinträchtigung (KMK, 1999) oder einer Lernbehinderung („Lernbehinderung“ wird im Sinne von Eser als „Fachbegriff für ein Grenz-, Zwischen- oder Übergangssyndrom auf dem Kontinuum zwischen „Geistiger Behinderung“ im engeren Sinne und Normalentwicklung charakterisiert (Eser, 2018, S. 101).“) (vgl. SGB III) sind augenscheinlich insbesondere die Kulturtechniken und deren Vorläuferfähigkeiten, die Aneignung, Anwendung und Reflexion von Lernstrategien sowie altersangemessenes Sozialverhalten eine besondere Herausforderung.

Die Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen, Verhalten und Lernen an sich können Auswirkungen auf die Teilhabe in weiteren Lebensbereichen haben. Zu diesen zählen z.B. die selbständige Lebensführung oder die Vorbereitung auf Arbeit.

Losgelöst vom Lernort und unabhängig von der Zuordnung ins Strukturbild (vgl. Abb. 1) ist es im Sinne des sonderpädagogischen Handlungsmodells (Abb. 4) zunächst die Aufgabe sonderpädagogischer Diagnostik, die in Abhängigkeit vom Auftrag und von der diagnostischen Fragestellung relevanten diagnostischen Kategorien zu beschreiben (Kriterien, die für die Initiierung oder Beendigung sonderpädagogischer Expertise im Spiegel des Strukturbildes (Abb. 1) relevant sind, werden in Kapitel 5. beleuchtet).

3. Welche diagnostischen Aspekte sind im Förderschwerpunkt "Lernen" bedeutsam?

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