Arbeitsstand 09.01.2019
von Dr. Ralf Brandstetter, Manfred Burghardt, Ansgar Rieß, Manuel Binder, Lars Annecke, Thomas Walter & Philipp Staubitz
(Sonder-) Pädagogisches Handeln und Wirken ist in folgende vier Dimensionen eingebunden:
Die Dimension „Haltung und professionelle Beziehungsgestaltung“ ist dabei ein zentrales Element sonderpädagogischen Handelns und Wirkens und durchzieht alle weiteren Dimensionen. Denn: (Sonder-) Pädagogik ist und bleibt ein interaktionistisches Komplex-Geschehen zwischen Menschen. Und dieses Komplex-Geschehen ist maßgeblich abhängig von einer gelingenden Beziehungsgestaltung, die auf Seiten der Professionellen von einer humanistischen Haltung geprägt sein muss. Nur so ist das übergeordnete Ziel (sonder-) pädagogischen Handelns zu erreichen, nämlich Kindern und Jugendlichen dauerhaft ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. Es gilt also, auf der Grundlage einer humanistischen Haltung und einer professionellen Beziehungsgestaltung:
Dieser Leitlinientext soll in erster Linie das fachwissenschaftlich fundierte Verständnis sonderpädagogischer Fachlichkeit des Förderschwerpunkts „Lernen“ am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (SSDL), Abteilung Sonderpädagogik in Freiburg abbilden und in ein sonderpädagogisches Handlungsmodell überführen. Damit kann der Text eine Hilfestellung bieten, wie auf Grundlage einer sonderpädagogischen Diagnostik passgenaue Bildungsangebote entwickelt werden können, die die Aktivität und Teilhabe eines jungen Menschen unterstützen und gewährleisten.
Ausgangspunkt der Ausführungen sind Fragestellungen, die sich u.a. mit dem Inkrafttreten von § 15 Schulgesetz in Baden-Württemberg (2015), der Verwaltungsvorschrift „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen“ (2008) sowie der Verordnung über sonderpädagogische Bildungsangebote (SBA-VO, 2016) ergeben.
Abb.1: Landesinstitut für Schulentwicklung (Hg.): Rahmenkonzeption sonderpädagogischer Dienst. Stuttgart, 2017
Um für die Praktiker (Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird ab hier auf die Explikation aller Geschlechter verzichtet) im Spiegel der gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen Hilfestellungen anzubieten, werden folgende Fragen beleuchtet:
Die Leitlinien richten sich an alle, die in ihrer Praxis oder im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung zu diesen Fragen entsprechende Antworten finden müssen.
Das sonderpädagogische Handeln im Sonderpädagogischen Dienst, im Rahmen der Anspruchsfeststellung und im Rahmen eines sonderpädagogischen Bildungsangebotes orientiert sich grundsätzlich an drei übergeordneten Elementen:
• „Bio-psycho-soziales Modell der ICF-CY“ nach Lienhard, P. & Joller-Graf, G. (2011) zur Strukturierung der diagnostischen Daten
Zunächst werden in aller Kürze die drei o.g. Elemente vorgestellt und dann in einem sonderpädagogischen Handlungsmodell in Abb. 4 in ihrem Zusammenspiel abgebildet.
Die Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung (Brandstetter/Burghardt 2008) meint die an den individuellen Bedürfnissen und Potenzialen von jungen Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen und Benachteiligungen ausgerichtete professionelle Steuerung des Zusammenspiels von sonderpädagogischer Diagnostik, kooperativer Bildungsplanung, individuellem Bildungsangebot, Leistungsfeststellung und der kontinuierlichen Dokumentation dieses Prozesses. Im Zentrum aller Überlegungen steht dabei der junge Mensch. Ausgehend von seinen Talenten, Interessen, Bedürfnissen und Potenzialen sollen in einem kooperativen Abstimmungsprozess von Lehrkräften, anderen Fachkräften, Eltern und - je nach Möglichkeit - dem jungen Menschen selbst individuelle Bildungsangebote innerhalb und außerhalb von Kindergarten, Schule und beruflichen Bildungsangeboten entwickelt werden, die ein Höchstmaß an Aktivität und gesellschaftlicher Teilhabe zum Ziel haben. ILEB ist kurz gesagt die Idee, Bildungsangebote „vom Kind zum Programm“ zu denken. Der Einstieg in den spiralförmigen ILEB-Prozess ist dabei in der Regel die sonderpädagogische Diagnostik. Sie verfolgt zum einen das Ziel, den Kompetenzstand des jungen Menschen umfassend zu erheben, zum anderen unternimmt sie den Versuch, mögliche Barrieren zu eruieren, die eine optimale Entwicklung verhindern könnten. Sowohl in inhaltlich-fachlicher als auch organisatorisch-struktureller Hinsicht kommt ILEB noch eine weitere Funktion zu. ILEB fungiert gleichermaßen auch als ein Instrument der Qualitätssicherung sonderpädagogischer Arbeit (vgl. Burghardt/ Brandstetter/Stecher/Klingler-Neumann 2013)
Trost benennt in seinem Aufsatz „Bedingungsanalytische Diagnostik“ folgende Schritte:
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung & Gesundheit bei Kindern & Jugendlichen (WHO 2011) basiert auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Behinderung. Die ICF-CY beschreibt die Situation einer Person auf unterschiedlichen Ebenen:
Sämtliche Ebenen stehen unter dem Einfluss von Kontextfaktoren (personbezogene
Faktoren und Umweltfaktoren).
Die Leitplanke ICF-CY dient im Rahmen sonderpädagogischer Diagnostik in erster
Linie der Ordnung diagnostischer Daten: Neben den Kompetenzbeschreibungen auf
der Ebene von Aktivität und Teilhabe sollen bei der Hypothesenbildung zum einen
Körperfunktionen und -strukturen, zum anderen die Kontextfaktoren (personbezogene
Faktoren und Umweltfaktoren) als „hypothesen-generierende Kategorien“
Berücksichtigung finden (Vorhandene Diagnosen nach ICD-10 oder DSM-5 werden zusätzlich miteinbezogen, wenn sich diese auf die
Kompetenzentwicklung im Bereich Aktivität und Teilhabe auswirken und somit im Rahmen der
Hypothesenbildung ggf. berücksichtigt werden sollten).
Im nachfolgenden Handlungsmodell „Diagnostische Prozesse gestalten in sonderpädagogischen Kontexten“ bildet sich folgendes ab:
Sonderpädagogische Expertise im Förderschwerpunkt „Lernen“ nimmt junge Menschen in den Blick, die über einen längeren Zeitraum die definierten Bildungsziele im vorschulischen Bereich, in allgemeinen Schulen, in kooperativen Organisationsformen, in inklusiven Bildungsangeboten, in Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren mit allgemeinen Bildungsgang und dem Bildungsgang „Lernen“ und in der beruflichen Bildung nicht oder nur in Ansätzen erreichen (Junge Menschen mit „geistiger Behinderung“ im Sinne der KMK-Empfehlungen gilt es dabei zu unterscheiden).
Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten, einer
Lernbeeinträchtigung (KMK, 1999) oder einer Lernbehinderung („Lernbehinderung“ wird im Sinne von Eser als „Fachbegriff für ein Grenz-, Zwischen- oder
Übergangssyndrom auf dem Kontinuum zwischen „Geistiger Behinderung“ im engeren Sinne und
Normalentwicklung charakterisiert (Eser, 2018, S. 101).“) (vgl. SGB III) sind
augenscheinlich insbesondere die Kulturtechniken und deren Vorläuferfähigkeiten, die
Aneignung, Anwendung und Reflexion von Lernstrategien sowie
altersangemessenes Sozialverhalten eine besondere Herausforderung.
Die Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen, Verhalten und Lernen an sich
können Auswirkungen auf die Teilhabe in weiteren Lebensbereichen haben. Zu diesen
zählen z.B. die selbständige Lebensführung oder die Vorbereitung auf Arbeit.
Losgelöst vom Lernort und unabhängig von der Zuordnung ins Strukturbild (vgl. Abb. 1) ist es im Sinne des sonderpädagogischen Handlungsmodells (Abb. 4) zunächst die Aufgabe sonderpädagogischer Diagnostik, die in Abhängigkeit vom Auftrag und von der diagnostischen Fragestellung relevanten diagnostischen Kategorien zu beschreiben (Kriterien, die für die Initiierung oder Beendigung sonderpädagogischer Expertise im Spiegel des Strukturbildes (Abb. 1) relevant sind, werden in Kapitel 5. beleuchtet).
Das in der ICF-CY abgebildete bio-psycho-soziale Modell erleichtert die kategoriale Ordnung diagnostischer Daten und das Aufeinander-Beziehen der Daten im Rahmen der Hypothesenbildung. Aus diesem Grund werden die diagnostischen Aspekte im Folgenden in dieser Denklogik geordnet (Die für das Verhalten relevanten Risiko- und Schutzfaktoren werden ebenfalls in das bio-psychosoziale Modell eingeordnet).
Ausgangspunkt sonderpädagogischer Diagnostik im Förderschwerpunkt Lernen sind
in der Regel zunächst systematisierte Beobachtungen auf der Ebene von Aktivität
und Teilhabe.
Die kategorialen Bezugsgrößen sind zunächst einmal die im Bildungsplan in BadenWürttemberg (2008) genannten Fächer und Fächerverbünde, dort in besonderem
Maße die Fächer Sprache und Mathematik mit ihren jeweils zugrundeliegenden
Theorien.
Dazu kommen die Kompetenzformulierungen folgender (ICF-basierter) Bildungsbzw. Lebensbereiche:
3.2. Diagnostische Kategroein auf der Ebene von Körperfunktionen und ggfs. -strukturen
Schüler mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Sinne
des Förderschwerpunkts lernen im Anschluss an Grünke (2004) gemessen an der
Altersnorm in der Regel zeitlich verlangsamt, merkreduziert, ungenauer erfassend,
weniger differenziert, weniger strukturiert, weniger kategorisch, planungs- und
steuerungsreduziert, weniger konzentriert, vermindert selektiv aufmerksam,
vermindert effektiv in der Anwendung und im Transfer von Wissen, sowie weniger
selbstkontrolliert.
Auf der Ebene der Körperfunktionen werden deshalb im Förderschwerpunkt Lernen
im Rahmen sonderpädagogischer Diagnostik insbesondere die mentalen
Funktionen in den Blick genommen.
Wichtig: Bei der Beantwortung der diagnostischen Fragestellung ist nicht die isolierte
Betrachtung des IQ-Gesamtwertes relevant, sondern ob und ggf. wie sich
Einschränkungen einzelner Körperfunktionen und ggf. –strukturen in Bezug auf
Aktivität und Teilhabe im Einzelfall auswirken.
Zur begrifflichen Strukturierung dient das CHC-Modell (Cattell-Horn-Carroll-Modell,
McGrew, 2005).
Dieses umfasst die Aspekte:
Ergänzt werden müssen die genannten CHC-Faktoren durch weitere Apsekte:
Funktionsbeeinträchtigungen in den genannten Bereichen führen neben den
Schwierigkeiten beim Erlernen der Kulturtechniken oder beim Reproduzieren von
Lerninhalten aus den Fächer und Fächerverbünden häufig sekundär auch zu
Schwierigkeiten in den Bildungsbereichen „Identität und Selbstbild“ sowie „Umgang
mit Anderen“. Umgekehrte Effekte sind ebenfalls bedeutsam.
Auf der Ebene der Körperstrukturen gilt es zu prüfen, ob Beeinträchtigungen selbst
oder damit im Einklang stehende Veränderungen sekundär auf der Ebene der
personbezogenen Faktoren zu Einschränkungen von Aktivität und Teilhabe führen.
Anders: Wirkt sich eine Problematik in der Steuerung der Schilddrüsenfunktion direkt
auf Lernprozesse aus oder beeinflusst sie das Selbstbild und damit in der Folge
indirekt wiederum das Lernen?
3.3. Diagnosen nach ICD-10 Grundsätzlich gilt es physische, psychische und psychiatrische Störungsbilder im Sinne der ICD und der DSM in den Blick zu nehmen. Diese Diagnostik fällt selbstredend nicht in den Zuständigkeitsbereich der Sonderpädagogik, gleichwohl können die Ergebnisse bei der Hypothesenbildung bedeutsam sein. Eine ICD-10 Diagnose kann aber weder als alleiniger Begründungszusammenhang dienen, um eine Empfehlung auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Förderschwerpunkt Lernen auszusprechen, noch können zwingend und immer stringente Ableitungen für passende Bildungsangebote vorgenommen werden. Es gilt im Einzelfall zu prüfen, wie sich die Symptome und Therapien bei Diagnosen wie z.B. Adipositas, Epilepsie, Enuresis oder Traumatisierungen auf Lernprozesse auswirken.
3.4. Diagnostische Kategorien auf der Ebene der Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) In Bezug auf die diagnostischen Kategorien in den Kontextfaktoren sind bei den personbezogenen Faktoren folgende Aspekte in den Blick zu nehmen (vgl. u.a. Stein, 2013):
Gerade der Berücksichtigung der motivationalen Disposition kommt bei häufig
misserfolgsorientierten Schülern in der Didaktisierung eine zentrale Bedeutung zu
(vgl. Sideridis, Morgan, Botsas, Padeliadu & Fuchs, 2006).
In Bezug auf die diagnostisch relevanten Kategorien die Umweltfaktoren betreffend
werden die hemmenden und förderlichen Aspekte in Bezug auf folgende Felder
unterschieden: Unterstützung und Beziehung (Schule, Familie, Peer, andere
Fachleute), Einstellungen (Schule und Familie) und Lernumgebung (Materialen,
Medien, Methoden und persönliche Hilfsmittel).
Die Qualität der Beziehungsgestaltung zu den primären Bezugspersonen in diesen
Feldern ist als besonders bedeutsam hervorzuheben.
Relevant sind die Umweltfaktoren vor allen Dingen aufgrund ihrer Wechselwirkungen
mit den Lebens- und Bildungsbereichen „Anforderungen und Lernen“ „Identität und
Selbstbild“, „Umgang mit Anderen“ sowie „Selbständige Lebensführung“.
Drei Vorbemerkungen:
1. Ausgangspunkt für die Planung und Unterbreitung von individuellen Bildungsangeboten im Förderschwerpunkt Lernen sind grundsätzlich die individuellen Lernvoraussetzungen des jungen Menschen, seine Talente, seine Interessen und seine Bedürfnisse. Eine präzise Analyse des Ist-Standes von Aktivitäten und Teilhabe, in denen im Bildungsplan aufgeführten Bildungsbereichen, eine Analyse der Kompetenzen in den Kulturtechniken, ein umfassendes Wissen über die relevanten Körperfunktionen sowie eine genaue Kenntnis der bedeutsamen hemmenden und förderlichen Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren) ist die Voraussetzung, um Kindern und Jugendlichen mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Sinne des Förderschwerpunkts Lernen ein adäquates Bildungsangebot unterbreiten zu können. Dieser Grundsatz gilt selbstredend unabhängig vom Lernort. Für eine zeitgemäße Didaktisierung benötigt es dreierlei:
2. An der Schnittstelle zwischen sonderpädagogischer Diagnostik und individuellen Bildungsangeboten gelten wiederum spezifische Qualitätsmerkmale, die nicht Gegenstand dieser Leitlinien sind. Pointiert werden diese u.a. in der ILEBHandreichung im Baustein Kooperative Bildungsplanung (Burghardt/Brandstetter/Stecher/Klingler-Neumann, 2013) und im Qualitätsrahmen „Gespräche führen in sonderpädagogischen Kontexten“ des SSDL Freiburg, Abt. Sonderpädagogik (2016).
3. Die fachwissenschaftlichen Aspekte beziehen im erziehungswissenschaftlichen Sinn auch fachdidaktische und erzieherische Aspekte mit ein.
Im Folgenden soll es nun darum gehen, die Qualitätsmerkmale der individuellen Bildungsangebote im Verständnis des Förderschwerpunkts Lernen zu skizzieren. Die kategoriale Ordnung der Qualitätsbereiche (QB) ist dabei am
des Staatlichen Seminars für DidaktikQualitätsrahmen Unterrichtspraxis im Fördeschwerpunkt Lernen des Staatlichen Seminars für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg, Abteilung Sonderpädagogik ausgerichtet (Es handelt sich dabei um einen Orientierungsrahmen, der vom Staatlichen Seminar für Didaktik und
Lehrerbildung mit dem Regierungspräsidium Freiburg und mit dem Landeslehrerprüfungsamt Außenstelle
Freiburg unter Beteiligung aller Schulleitungen und Mentorinnen und Mentoren im Regierungspräsidium Freiburg
2012 einvernehmlich verabschiedet wurde.).
Innerhalb der Kategorien werden diejenigen Kriterien zunächst genannt, die im Spiegel
der Meta-Mega-Analysen von Grünke (2004) & Hattie (2013) die größten Effektstärken
aufweisen.
Die Qualität der Beziehungsgestaltung ist maßgeblich für die Wirkkraft aller
individuellen Bildungsangebote. Auf der Basis einer professionellen humanistisch
geprägten Haltung der Lehrkräfte sorgen diese durch eine konsequente und im besten
Fall mehrperspektivische Reflexion ihres erzieherischen Verhaltens bzw. der
Beziehungsgestaltung für die nachhaltige Fortschreibung eines wertegebundenen und
vertrauensvollen Miteinanders – mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
genauso wie mit deren Erziehungsberechtigten oder weiteren Partnern.8
Die personale Kontinuität ist dabei die Voraussetzung für eine vertraute, verlässliche
und kontinuierliche pädagogische Beziehung im Rahmen der individuellen Lern- und
Entwicklungsbegleitung.
Die sozio-kulturellen Prägungen der jungen Menschen werden bei der Gestaltung der
Bildungsangebote in besonderem Maße berücksichtigt.
Veränderbare hemmende Umweltfaktoren im schulischen, außerschulischen und
familiären Bereich werden in gemeinsamer Verantwortung von allen am
Bildungsprozess Beteiligten verändert. Förderliche Umweltfaktoren werden explizit als
Ressource genutzt.
Kooperationen innerhalb und außerhalb des Unterrichts werden wertschätzend,
transparent, kontinuierlich, in gemeinsamer Zielorientierung, mit verbindlichen
Absprachen und rollenklar ausgestaltet. Die Impulse und Vereinbarungen mit Vertretern
der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Agentur für Arbeit, von Psychiatrien, mit
Therapeuten, Psychologen, Ärzten und weiteren Experten finden bei der Ausgestaltung
der individuellen Bildungsangebote Berücksichtigung
Es wird besonderer Wert wird auf die Klassenführung und das daraus resultierende
Klassenklima gelegt (Vgl. dazu Hattie (2013): „Beeinflussung von Verhalten der Klasse“ hat einen großen Effekt auf den Lernzuwachs
des Einzelnen.) Gemeint ist damit beispielsweise, individuell und situativ
angemessen auf Unterrichtsstörungen und Konflikte zu reagieren, darauf zu achten, dass klare Regeln oder ritualisierte Handlungen stimmig und wirksam sind und die Lehrkraft ihre Rolle situationsangemessen und eindeutig interpretiert.
Verhaltensmodifikationen werden dabei theoriegeleitet und wissenschaftlich fundiert
arrangiert. Lerntheoretisch und kognitionspsychologisch orientierten Formen werden die
größten Effekte beigemessen (Vgl. dazu Grünke (2004).
Routinen im erwünschten Verhalten werden ausgebildet.
Die Aktivierung von Lern- und Denkprozessen in unterschiedlichen Dimensionen
(sprachlich, handelnd, etc.) wird gezielt evoziert, z.B. über Formen des Kooperativen
Lernens (Vgl. dazu Hattie (2013): Formen des kooperativen Lernens haben einen überdurchschnittlichen Einfluss auf
Lernen).
Die subjektive Bedeutsamkeit der Lerngegenstände sowie der Verwendungsbezug der
Kulturtechniken werden in einem vorwiegend lebenspraktischen bzw.
lebensweltorientierten Unterricht arrangiert.
Ziele, Inhalte, Abläufe und Zwischenschritte werden in Lehr-Lernsituationen transparent
gemacht (Vgl. dazu Hattie (2013): Der „Klarheit“ der Lehrperson hat in Bezug auf den Lernzuwachs der Schülerinnen und
Schüler einen maßgeblichen Einfluss). Die Lernumgebung ist vorbereitet. Lerninhalte werden in kleine Einheiten
gegliedert, bauen systematisch aufeinander auf und werden schrittweise gesichert.
Instruktionen erfolgen kurz, knapp, strukturiert, verständlich und ggf. medial gestützt.
Die Lernzeit wird effizient genutzt.
Voraussetzungen in den Körperfunktionen werden berücksichtigt (Vgl. Mickley, M. & Renner, G. (2015)). Den verminderten
Aufmerksamkeitsfähigkeiten wird durch eine Rhythmisierung des individuellen Lernens
Rechnung getragen.
Die kontinuierliche Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit sowie des
Verhaltens und der permanente Abgleich aus Fremd- und Eigenwahrnehmung
einschließlich Feedback (Aufgabe, Lernprozess und Selbstregulation) hat in Bezug auf
den individuellen Lernerfolg eine überragende Bedeutung (Vgl. dazu Hattie (2013): Dem Aspekt „Selbsteinschätzung“ wird die höchste Effektstärke beigemessen, dem
Aspekt „Feedback“ wird ein großer Einfluss zugesprochen, insbesondere in den Formen zum Lernprozess („Wie
machst du etwas?“) und zur Selbstregulation („Mit welcher Einstellung machst du etwas?“)). Dementsprechend sind
derlei Formen ritualisiert zu kultivieren.
Der Unterricht wird beim Erlernen von Routinen Fehler vermeidend gestaltet (Vgl. Grünke (2004)). Offene
Lern-Arrangements werden immer erst dann angeboten, wenn grundlegende
Kompetenzen gut beherrscht werden.
Für die Gestaltung der individuellen Bildungsangebote werden die Bildungspläne als
Bezugsgröße herangezogen, die dem Kind/ Jugendlichen gerecht werden.
Im Hinblick auf Ablauf und Ziele ermöglicht eine hohe Transparenz, eine klare
Lehrersprache und prozessbezogene Rückmeldeschleifen Lernprozesse effektiv und
nachvollziehbar zu gestalten.
Die vorbereitete Lernumgebung und das Pflegen von Ritualen ermöglichen eine
fließende Unterrichtsgestaltung.
Wissen wird im Rahmen der direkten Instruktion in kleinschrittigen Abfolgen vorgestellt und explizit vermittelt (Vgl. Grünke (2004) & Hattie (2013): Direkte Instruktion wird eine hohe bis sehr hohe Effektstärke zugesprochen).
Strategien und Kontrollmechanismen werden visualisiert und durch Übung und
kontinuierliche Reflexion in Routinen überführt (Vgl. Grünke (2004) & Hattie (2013): Der metakognitive Strategieerwerb hat einen großen Einfluss auf den
Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler). Der Unterricht ist demnach
redundanzreich ausgerichtet.
Der Berücksichtigung der personbezogenen Faktoren (Motivation, Motive,
Interessen, Stärken, Talenten, Bedürfnissen, etc.) kommt eine besondere Bedeutung
zu (Vgl. Sideridis, Morgan, Botsas, Padeliadu & Fuchs (2006).
In besonderem Maße werden Realsituationen im Sinne lebenspraktischer
Handlungsfelder didaktisiert. Dazu zählen insbesondere Bildungsangebote, die auf den
teilhabeorientierten Verwendungsbezug der Kulturtechniken abzielen und auf eine
selbständige Lebensführung (z.B. Einkaufen, Mobilitätstraining im ÖPNV, etc.) oder auf
die Vorbereitung auf Arbeit (z.B. Schülerfirmen, etc.) hin ausgerichtet sind.
Voraussetzungen in den Körperfunktionen werden berücksichtigt.19 Den verminderten
Aufmerksamkeitsfähigkeiten wird durch eine Rhythmisierung des individuellen Lernens
Rechnung getragen.
Individuelle Bildungsangebote werden so arrangiert, dass Schülerinnen und Schüler sich
als selbstwirksam erfahren können. Kontinuierliche gestalterische, musisch-kreative und
sportliche Angebote dienen ggf. der Stabilisierung des Selbstkonzepts.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die ausgewiesenen Qualitätsbereiche und -
kriterien und die damit verbundenen bedeutsamen Aspekte für die Ausgestaltung der
individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung ihre volle Wirksamkeit erst im Zusammenspiel entwickeln. Sie sollten dabei wie beschrieben an wissenschaftlich
fundierte Untersuchungsergebnisse zu ihrer Effektivität anknüpfen.
Soweit der Idealfall. Im Einzelfall basieren sie aber -gewissermaßen als Ultima Ratiobisweilen auch auf Erfahrungen und unorthodoxen Entscheidungen der Professionellen.
Und zwar immer dann, wenn sich nach gescheiterten Versuchen im Spiegel des
Idealfalls keine vielversprechenden Alternativen mehr auftun.
Die bisherigen Ausführungen dienen zusammengenommen als mögliches
Handlungskonzept in der Arbeit mit der beschriebenen Zielgruppe – und zwar losgelöst
von der Frage, ob der junge Mensch einen Anspruch auf ein sonderpädagogisches
Bildungsangebot im Förderschwerpunkt hat oder nicht.
Im abschließenden Kapitel geht es deshalb nun um die Frage, welche Kriterien einen
sonderpädagogischen Beratungs- und Unterstützungsbedarf oder die Empfehlung auf
einen Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot auslösen.
Vorab dazu: Diese Kriterien sollten qualitativ gesehen
Die nachfolgenden Formulierungen sind Vorschläge der Autoren für die weiteren Diskussionen zum Thema. Und dies schlicht, weil die erforderlichen Kriterien bis dato noch nicht in der abgestimmten Weise vorliegen.
Maßgeblich dafür, ob Leistungen im Rahmen des sonderpädagogischen Dienstes überhaupt initialisiert werden können, sind die dokumentierten Nachweise der allgemeinen Schule bzw. des Kindergartens, ob im Rahmen des dort definierten Bildungsauftrages alle (pädagogischen) Möglichkeiten bereits ausgeschöpft wurden (Nachteilsausgleich, Beratungslehrkräfte, schulpsychologische Beratungsstelle, weitere Fachkräfte, Medikation, Hilfsmittel, etc.).
Der sonderpädagogische Unterstützungs- und Beratungsbedarf im Sinne des
Förderschwerpunkts Lernen ergibt sich dann, wenn durch die punktuelle Unterstützung und Beratung eine längerfristige Einschränkung an Aktivitäts- und
Teilhabemöglichkeiten in mehreren Bildungsbereichen und in den
Kulturtechniken präventiv verhindert werden kann oder wenn der Anspruch auf
ein sonderpädagogisches Bildungsangebot nicht mehr besteht und durch eine
nachgehende Begleitung gesichert werden soll, dass der junge Mensch dauerhaft
ohne ein sonderpädagogisches Bildungsangebot Aktivität und Teilhabe generieren
können soll.
Der sonderpädagogische Unterstützungs- und Beratungsbedarf im Sinne des Förderschwerpunkts Lernen endet, wenn der junge Mensch den Anforderungen des allgemeinen Bildungsgangs ohne sonderpädagogische Beratung und Unterstützung folgen kann. Der Bedarf endet ebenfalls, wenn eine sonderpädagogische Beratung und Unterstützung nicht mehr ausreicht und der Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot geprüft werden muss. Die genannten Kriterien sind in der Dokumentation jeweils mit Indikatoren zu belegen.
Ein Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Sinne des Förderschwerpunkts Lernen ist von mehreren Kriterien abhängig:
Entscheidend: Statt des gängigen Kriteriums des Intelligenz-Quotienten (s. z.B.
Grünke, 2004) ist bei der Feststellung eines sonderpädagogischen
Bildungsanspruchs im Sinne des Förderschwerpunkt Lernens aus unserer Sicht nicht
der isoliert betrachtete IQ-Wert an sich relevant, sondern die Beantwortung der
Frage, ob und ggf. wie sich Einschränkungen einzelner Körperfunktionen und ggf. –strukturen in Bezug auf Aktivität und Teilhabe im Einzelfall auswirken. Die dazu
erforderliche Hypothesenbildung (vgl. Abb. 4) findet dabei auf der Basis
wissenschaftlicher Erkenntnisse statt (vgl. Mickley/Renner, 2015).
Zusammengenommen ergibt sich der Anspruch auf ein sonderpädagogisches
Bildungsangebot im Sinn des Förderschwerpunkts Lernen, wenn Einschränkungen in
den Körperfunktionen und ggf. Körperstrukturen und/oder aktuelle oder
unveränderliche hemmende Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personbezogene
Faktoren) die Entwicklung von Aktivitäten und Teilhabe der jungen Menschen im
Vergleich zur Altersnorm längerfristig gleich in mehreren Bildungsbereichen
respektive in den Kulturtechniken nicht, kaum oder nur zum Teil ermöglicht.
Die genannten Kriterien sind in der Dokumentation jeweils mit Indikatoren zu belegen.
Ein Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot im Sinne des
Förderschwerpunkts Lernen erlischt, sobald ein Kind oder ein Jugendlicher ohne
dauerhafte sonderpädagogische Unterstützung in den zuvor eingeschränkten
Lebens- und Bildungsbereichen Aktivität und Teilhabe normgerecht entwickeln kann
respektive in den Bereich der beruflichen Bildung wechselt.